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Das große Problem der Standard-Berichterstattung über Lena Schilling
„Ist das jetzt ein Klatsch- und Tratschblattl“, „wischi-waschi“, „liest sich wie Gossip Girl“ und andere Kommentare konnte man oft auf Social Media zum Artikel des Standards über Lena Schilling lesen. Mir persönlich ging es ähnlich, aber ich konnte nie genau festmachen, woran das eigentlich liegt. Was ist das Problem?
Das Problem sind die vielen anonymen Quellen, Zitate und der Umgang mit diesen. Um das für mich herauszufinden, habe ich mich durch unzählige Presse-Richtlinien, Kodexe und Redaktionsleitfäden von heimischen aber auch internationalen Institutionen gelesen. Auch um zu verstehen, wie damit hier und in anderen Ländern umgegangen wird.
Fangen wir aber mal von vorne an: grundsätzlich gibt es die Möglichkeit, Quellen in der Berichterstattung Anonymität zu gewähren. Das ist ein sehr wichtiger und auch rechtlich geschützter Grundpfeiler des (investigativen) Journalismus. Die Quellen sind in dem Fall der Redaktion bekannt. Sie werden aber durch die Anonymisierung zur anonymen Quelle für den*die Leser*in.
Die Verwendung dieser anonymen Quellen wird international sehr streng gesehen. Hier aus einem Memo der New York Times-Redaktion, das die Richtlinien dazu klarstellt:
But, as a general rule, stories based on unnamed sources generally are less convincing than those based on named sources and documents. And the cumulative reliance on unnamed sources can erode our credibility. Anonymity should not be granted casually. It should not be an automatic or assumed transaction between reporter and source. We expect reporters to press sources to stand by their statements, on the record.
Keller Memo on Anonymous Sources
Der*die Leser*in müsse jedoch immer möglichst viele Informationen bekommen, um einschätzen zu können, woher die Information komme, ob es Interessenskonflikte gäbe und warum die Anonymität bei der Veröffentlichung gewährt wurde.
So lautet es in den Redaktionsrichtlinien der Washington Post:
We must strive to tell our readers as much as we can about why our unnamed sources deserve our confidence. Our obligation is to serve readers, not sources.
Policies and Standards
Soweit zu den Basics. Ich möchte ausdrücklich erwähnen, dass ich hier beim Standard-Bericht kein Problem sehe. Quellen wurden meistens (dazu später mehr) so genau wie möglich benannt, die Gründe für die Anonymisierung werden genannt und es erweckt den Anschein, dass man diese lieber „on the Record“ hätte.
Wo es für mich problematischer wird ist der Einsatz der anonymen Quellen.
Das Ethik-Handbuch des NPR schreibt folgendes:
Don’t let sources offer anonymous opinions of others. Unidentified sources should rarely be heard at all and should never be heard attacking or praising others in our reports (with the possible rare exceptions of whistleblowers and individuals making allegations of sexual assault; see the longer discussion of anonymous sources in the section on transparency). While we recognize that some valuable information can only be obtained off the record, it is unfair to air a source’s opinion on a subject of coverage when the source’s identity and motives are shielded from scrutiny.
[Weiter unten wird es dann konkreter]
No attacks. In our coverage, anonymous or unnamed sources generally cannot make pejorative comments about the character, reputation, or personal qualities of another individual, or derogatory statements about an institution. We don’t use such material in our stories, with rare exceptions.
NPR Ethics Handbook
Aus dem Memo der New York Times:
We avoid letting sources hide behind anonymity for the purpose of partisan or personal attack. If such opinions are worth reporting and cannot be specifically attributed, they may be paraphrased or described after consultation with an editor. But, as the 2004 memo put it, „The vivid language of direct quotation confers an unfair advantage on a speaker or writer who hides behind the newspaper…“
Keller Memo on Anonymous Sources
Auch in den Richtlinien der AP steht ähnliches:
Under AP’s rules, material from anonymous sources may be used only if:
Telling the Story
- The material is information and not opinion or speculation, and is vital to the report.
- […]
Noch konkreter wird es, wenn man sich auf Zitate beschränkt. So schreibt der deutsche Spiegel:
Anonyme Zitate (im Text) sind grundsätzlich zulässig, mitunter sogar notwendig für das Gelingen einer Geschichte. Sie sollten aber möglichst vermieden werden, da sie auf Kosten von Transparenz und Glaubwürdigkeit gehen. Die These einer Geschichte darf nicht nur durch anonyme Zitate belegt sein, schon gar nicht die einer Titelgeschichte.
Spiegel Standards
Zum Abschluss noch ein Ausschnitt des österreichischen Pressekodex:
Anonyme Zitierungen sind zu vermeiden, sofern es nicht um die Sicherheit der zitierten Person oder die Abwehr eines anderen schweren Schadens von dieser geht.
Grundsätze für die publizistische Arbeit
Und hier nähern wir uns dem eigentlichen Grund des Problems. Das, was mich am Standard-Bericht stört und was ich so lange nicht benennen konnte. Es werden hier anonyme Zitate verwendet, um eine Kommentarspalte auszumalen. Es wird in einem Bericht mittels unzähliger anonymer Zitate versucht, den Charakter von Lena Schilling darzustellen, ohne, dass man diese Einordnung journalistisch selbst in einem richtigen Kommentar macht. Hier eine Aufzählung der problematischen Stellen:
Hinter dem Aktenzeichen 5 C 300/24i verbirgt sich nicht weniger als eine „Katastrophe“, wie es mehrere grüne Abgeordnete nennen.
Nicht der Redakteur bezeichnet es als Katastrophe – der grüne Abgeordnete.
Kritikerinnen und Kritiker der jungen Spitzenkandidatin meinen, die Unterlassungserklärung sei nur „die Spitze des Eisbergs“.
Anonyme Stimmen bezeichnen es als Spitze des Eisbergs – ohne mehr Informationen, was denn da noch alles ist. Der Leser wird komplett im dunkeln gelassen – jedoch vermittelt man das Bild, dass es noch einen ganzen Berg an ähnlichen Dingen geben soll. Beweise? Konkretes? Fehlanzeige.
Warum macht Schilling all das? Er habe noch nie erlebt, dass eine Kollegin freimütig so private Dinge erzähle, nonchalant schwere Vorwürfe darin verpacke und sich das dann als übertrieben oder schlicht falsch entpuppe, sagt ein Abgeordneter dem STANDARD: „Das ist nicht normal.“
Wertung, Attacke, Meinung von einem anonymen Abgeordneten (der Grünen?). All das, was man eigentlich nicht tun sollte.
Eine erfahrene Grünen-Politikerin sagt: Schilling sei entweder nicht eingehend auf ihre Eignung geprüft worden. „Oder man hat Warnsignale ignoriert.“
Weiter geht es mit einer Einschätzung und Meinung, ohne, dass man wirklich materielle Informationen zur Geschichte beiträgt:
Von einem „mehr als hinterfragenswerten Umgang mit sehr jungen Menschen, die zu ihr aufschauen“, spricht ein langjähriger Klimaaktivist.
Es geht munter weiter:
Minderjährige Mitstreiterinnen äußern das Gefühl, Schilling habe sie gegeneinander ausgespielt, um ihre eigene Macht zu zementieren. Eine ältere Aktivistin erzählt von ihrem Eindruck, Schilling habe das Vertrauen, das junge Menschen in sie gesetzt hatten, ausgenutzt. Von einem „mehr als hinterfragenswerten Umgang mit sehr jungen Menschen, die zu ihr aufschauen“, spricht ein langjähriger Klimaaktivist.
Zu guter letzt kommt auch noch eine langjährige Bekannte zum Wort. Warum deren Wort in dieser Causa gewichtig ist, bleibt offen. Weil sie politisch aktiv ist? An welcher Position? Große Fragezeichen:
Eine langjährige gute Bekannte, die selbst politisch aktiv ist, fasst es so zusammen: „Wenn man jetzt nicht die Notbremse zieht, entsteht ein enormer Schaden: für die Grünen, für die Klimabewegung – aber vor allem für Schilling selbst.“
Wenn man sich zuerst die internationalen Standards zu diesem Thema liest und kurz darauf die Berichterstattung des Standards wird sehr schnell offensichtlich, wo das Problem ist.
Falls dieser Art des Journalismus in Österreich unseren Normen entspricht, sollten wir uns eventuell Gedanken darüber machen, es künftig besser zu machen.